Leseprobe Sturmnacht
Tomme mochte es nicht, auf einem verschlossenen Klo zu sitzen. Er war zwar erst sieben, aber er konnte sich noch gut an die Nacht vor einem Jahr erinnern, als es so gestürmt hatte. Er hatte allein auf der Toilette zu Hause in Wittdün gesessen und den Riegel nicht mehr aufbekommen. Seine Mutter hatte geschäftlich zu tun gehabt und auch seine beiden Schwestern hatten sich an dem Abend bei Freundinnen herumgetrieben. Tomme hatte die halbe Nacht allein in dem winzigen Raum ausharren müssen, niemand hatte sein Rufen und Weinen gehört.
Seitdem durfte die Klotür bei Tomme nie abgeschlossen werden. Weder zu Hause, noch wenn er, wie jetzt, in einem öffentlichen WC am Amrumer Strand saß.
Eigentlich hätte er ja lieber draußen in der Brandung gespielt. Aber diese Bauchschmerzen ...
Lag es an der Extra-Portion Pommes, die ihm seine große Schwester Annalena spendiert hatte? Oder an dem Schokoladenkuchen, den er gestern bei der Geburtstagsfeier seines Freundes Jan gefuttert hatte? Schon in der Nacht hatte Tomme das Gefühl gehabt, als sei sein Bauch voller Steine.
Schließlich war Tomme zu der Strandtoilette geflüchtet, hockte jetzt aber bereits eine Viertelstunde auf dem Klo, ohne dass sich etwas tat.
Eigentlich saß er gerne lange auf der Toilette. Wenn zu Hause seine Schwestern zankten, oder – viel schlimmer – seine Mama und sein Papa miteinander stritten, flüchtete er immer auf das Klo. Da hatte er seine Ruhe und bekam nichts von dem Geschrei und den schlimmen Worten mit. Das war hier am Strand aber zum Glück kein Problem.
Im Gegenteil. Hier war alles schön ruhig. Nur das leise Rauschen der Brandung war zu hören, das entfernte Plappern der Badegäste am Strand und die gedämpften Schritte einiger Besucher, die draußen durch den Sand stapften. Dazu die gelegentlichen Schreie der Möwen, die am Himmel ihre Kreise zogen.
Trotz seiner Bauchschmerzen überlegte Tomme, was es heute wohl zum Abendessen geben würde. Wahrscheinlich Pizza aus der Tiefkühltruhe. Seine Mutter musste wieder arbeiten, kam erst spät nach Hause und konnte dann nicht mehr kochen. Er stöhnte leise. Eigentlich mochte er Pizza, aber gerade fühlte er sich so vollgestopft, dass ihm allein beim Gedanken an Pizza ganz schlecht wurde.
In diesem Moment hörte er, wie sich Schritte näherten. Jemand trat ins Bad. Türklappern, dann Tapsen auf dem feuchten Toilettenboden.
Tomme hielt die Luft an.
Ob er gleich Besuch in seiner Kabine bekam?
Nein, stattdessen hörte er einen Reißverschluss, einen erleichterten Seufzer und dann, wie der Typ in das Pinkelbecken pullerte.
Tomme seufzte. Wenn es bei ihm doch nur auch so einfach wäre. Langsam hatte er keine Lust mehr, hier herumzusitzen. Er überlegte, abzubrechen und wieder zurück zu Annalena und Sinja zu gehen. Sie hatten zusammen mit ihren Freundinnen aus Norddorf gequatscht. Bestimmt hatten sie noch nicht mal gemerkt, dass er abgehauen war.
Sollte er aufstehen? In dem Moment hörte er wieder das Klappern der Toilettentür. Noch jemand kam herein. Wie der andere schien er zu den Pinkelbecken zu gehen.
Tomme atmete auf, hoffte, weiter seine Ruhe zu haben.
Plötzlich ein überraschter Ruf.
„He, du Arsch! Was soll das?“
„Finger weg von dem Mädchen!“, fauchte der andere.
„Was ...? Spinnst du?“
„Lass sie in Ruhe! Letzte Warnung!“
„Hau ab! Das geht dich einen Scheiß an, was ich mache oder nicht!“
"Finger weg von ihr, habe ich gesagt!“
Tomme hörte ein spöttisches Lachen.
„He, du kleiner Psycho! Willst du mir etwa drohen? Du kannst mich mal am ...“
Auf einmal ein Stöhnen, ein Stoßen, das Quietschen von Füßen auf den glatten Fliesen.
Was passierte da? Dann begriff Tomme: Die beiden kloppten sich!
Er packte seine halb heruntergelassene kurze Hose, beugte sich vor, drückte vorsichtig die Tür einen Spalt auf, um zu sehen, was draußen passierte.
Zwei Jungs, ein bisschen älter als Annalena, rauften heftig miteinander. Der eine hatte den Anderen gepackt, hielt seinem Gegner von hinten mit einer Hand den Mund zu. Der trug nur eine Badehose und war völlig überrascht. Tomme blickte erschrocken in seine entsetzten Augen.
Plötzlich ein Blitzen in der kalten Neonbeleuchtung der Toilette. Tomme erkannte, dass der eine Junge ein Messer in der Hand hielt!
Auch der Junge mit der Badehose sah die funkelnde Klinge. Er stöhnte auf, zuckte, wollte sich befreien, kämpfte um sein Leben.
Doch der hinter ihm stehende Junge hatte kein Mitleid, drückte seine Hand so fest auf den Mund des anderen, dass nur ein leises Ächzen zu hören war.
Dann zog er das Messer dem Badehosenjungen über den Hals. Tomme blickte mit weit aufgerissenen Augen auf die Wunde, aus der sofort Blut spritzte, auf den Boden und auf die Hände des Jungen mit dem Messer. Mit zufriedenem Grinsen beobachtete der, wie sein Opfer sich verzweifelt in seinen Armen krümmte und dann schnell schwächer wurde.
Mit einem letzten Gurgeln ging der Junge in der Badehose in die Knie, rutschte auf den Boden, blieb dort zuckend in seinem eigenen Blut liegen.
Der Kampf hatte nur ein paar Sekunden gedauert, doch nun schien es, als würde die Zeit stillstehen.
Tomme schnappte nach Luft, kein Laut kam über seine Lippen. Stattdessen konnte er den Blick nicht von dem Toten lassen, sah, wie die rote Pfütze immer größer wurde und wie das Blut langsam in den Abfluss floss.
Und hörte auf einmal ein leises Klackern, als ihm die Hose ihm aus den Händen glitt und auf den Fliesenboden rutschte!
Der Mörder drehte sich mit einem Ruck herum.
Tomme reagierte instinktiv. Blitzschnell lehnte er sich nach hinten, zurück in die Kabine und hob die Füße vom Boden. Hielt sich die Hand vor den Mund, wollte nicht schreien und konnte es auch nicht.
Hatte der Mörder ihn bemerkt?
Tomme hockte zitternd auf dem Klo.
Leise, er musste leise sein!
Wahnsinnig vor Angst wartete er darauf, dass die Tür aufging und er in die verrückten Augen des Mörders schauen würde ...
Schritte! Ein schiefes Knarren, nebenan wurde eine Tür geöffnet.
Er sucht mich! Gleich wird er mich finden und töten!
Plötzlich Stimmen von draußen. Das Lachen einer Frau. Jemand ging vor der Toilette durch den Sand, kam näher.
Dann hastige Schritte, das Klappern einer Tür – und Stille.
Tomme sackte zusammen. Tränen liefen ihm übers Gesicht, als er zwischen Kloschüssel und Toilettenwand auf den Boden rutschte.
Der Mörder war weg. Er würde nicht sterben.