Leseprobe Strandfeuer:
Wieso musste das Treffen unbedingt heute stattfinden? Marten hatte den ganzen Tag hinter der Bar des Poseidon gestanden, ein Pfahlbau, der sich auf mächtigen Bohlen über dem Strand erhob und bei Flut sogar vom Wasser umgeben war. Es war Hochsaison, und Sonntag noch dazu. Das hieß, zu den vielen Sommergästen, die sich in den Hotels, Ferienhäusern und Wohnungen eingemietet hatten, kamen noch die Tagesgäste hinzu. Und direkt neben dem Poseidon fand gerade die deutsche Meisterschaft im Kitesurfen statt. Das Poseidon war der perfekte Aussichtspunkt, um die Wettkämpfe in den meist stürmischen Wellen zu beobachten. Für Marten und seine Kollegen bedeutete das Dauerstress und keine freie Minute.
Und jetzt noch dieses dämliche Treffen. Zum Kotzen!
Warum trafen sie sich nicht woanders? Warum nicht im Poseidon? Oder irgendwo im Trockenen? Wieso sollte er unbedingt zu dieser Ruine kommen?
Es hatte angefangen zu regnen. Marten beobachtete, wie die Flut in den Prielen gurgelnd auflief. Nicht mehr lange und hier war alles vom Wasser bedeckt. Aber wenigstens war er hier zwischen den mächtigen Stelzen des abbruchreifen Pfahlbaus vor dem Regen geschützt.
Eine Zigarette rauchend dachte er an den heutigen Tag. An den nervigen Streit mit Geert, dem Besitzer des Poseidon. An die hübschen Mädchen, die in ihren knappen Tops direkt vom Strand hoch zu ihm an die Bar gekommen waren. Er erinnerte sich lächelnd an die Telefonnummern, die sie ihm zugesteckt hatten. Die beiden Blondinen hatten ihm sogar den Standort ihres Wohnmobils auf einem Campingplatz in Ording auf die Rückseite ihrer Rechnung gemalt.
Marten bewahrte den Zettel auf. Man wusste ja nie, was sich im Laufe des Sommers ergab.
Er schnippte seine Zigarette in den Priel. Dann wich er ein paar Schritte zurück. Das Wasser kam unaufhaltsam näher. Lange würde er nicht mehr hier warten können. Lauter Gewitterdonner ließ ihn zusammenzucken.
Marten holte tief Luft. Er schaute in seine Zigarettenpackung, griff sich dieses Mal einen Joint. Während er der ersten Zug nahm, sah er zu den tiefhängenden Sturmwolken. Vielleicht sollte er in die Berge umziehen. Apres-Ski und Hüttenzauber wären zur Abwechslung mal ganz nett. Wenn es wie geplant lief, konnte er sich das schon bald leisten.
Zufrieden umfasste er das Amulett in seiner Hosentasche. Fühlte sich gut an, schwer, irgendwie wertvoll. Er zog es heraus, wollte es genauer betrachten, konnte im trüben Licht aber kaum etwas erkennen. Verrückt, bildete er sich das ein, oder strahlte das Ding irgendwie Wärme aus? Als würde er ein kleines Herz in der Hand halten!
Zuerst hatte er daran gedacht, es für viel Geld zu verkaufen, um seine Schulden zu begleichen, um Kohle für seine zukünftigen Verpflichtungen zu haben. Doch egal, was er versprochen hatte, jetzt hatte er andere Pläne.
Natürlich würde das Ärger geben. Aber auf eigentümliche Weise war er sicher, dass sein neuer Besitz und das Wissen um seine Herkunft ihn unantastbar machten. Er musste vor niemandem Angst haben, im Gegenteil.
Wieder dachte er an Geert, seinen Chef. Einen Betrüger hatte der ihn genannt. Nur weil er sich einen Zwanziger fürs Taxi aus der Trinkgeldkasse genommen hatte. So ein Arschloch! Wer bekam denn das meiste Trinkgeld? Er ja wohl!
Sofort loderte die Wut wieder in ihm auf, drohte ihn mit heißen Flammen zu verzehren. Marten schüttelte den Kopf, schloss für einen Moment die Augen. Selbst überrascht über seinen plötzlichen Gefühlsausbruch versuchte er sich wieder zu beruhigen. Aber im nächsten Moment zerriss ein Blitz den Himmel, begleitet von einem gewaltigen Donner, der die Erde erbeben ließ. Dann war wieder nur das tiefe Grollen des Sturms zu hören, das Gurgeln der Flut.
Marten atmete langsam aus und ein. Dieser Scheißkerl war es nicht wert, dass er sich aufregte. Er nahm sich vor, Geert morgen noch mal zur Rede zu stellen. Der würde sich wundern, mit wem er sich angelegt hatte.
In Gedanken stand er seinem Chef am Tresen schon gegenüber. Seine Haut kribbelte. Wieder spürte er den brennenden Wunsch nach Rache in sich wachsen.
Er blickte auf seine Uhr. Wie lange musste er denn noch warten? Wollten ihn denn heute alle verarschen?
Auf einmal hörte er durch den Wind ein Knacken, dann näherten sich von hinten knirschende Schritte im Sand.
Endlich. Jetzt kam es drauf an. Er musste genau aufpassen, was er sagte. Er wandte sich um, konnte aber zunächst niemanden sehen.
„Hallo Marten“, meldete sich eine vertraute Stimme.
Er sah überrascht zu dem Schatten, der sich hinter einer Bohle aus der Dunkelheit löste, stapfte dabei in das schon knöcheltiefe Wasser des Priels. Er fluchte.
Wieder donnerte es. Das Gewitter war genau über ihnen, und für den Bruchteil einer Sekunde erkannte Marten, wer vor ihm stand, sah das metallische Glänzen in der Hand.
„Was ...?“, stammelte er erschrocken, als ein weiterer Blitz die Nacht zerriss, gefolgt von einem heftigen Donnerschlag.
Und von einem Schuss. Marten wurde nach hinten geschleudert. Und war bereits tot, als er rücklings in den Priel stürzte.