Leseprobe Schwarzes Watt:
Eiderstedt, 11. Oktober 1634
Der Abend, an dem die Welt unterging, begann mit einer frischen Brise aus dem Osten.
Sie war gerade dabei die Hühner zu füttern, als sie spürte, wie der Wind ihre langen schwarzen Haare erfasste, sie packte wie eine strenge Hand.
Nichts Ungewöhnliches.
Das sechzehnjährige Mädchen wohnte mit ihrer Familie, ihrem Bruder und ihren Eltern, auf Eiderstedt. Direkt hinter dem Deich. Sturm und Regen gehörten genauso zu ihrem Leben wie die harte Arbeit auf dem kleinen nordfriesischen Hof.
Sie schaute nach oben in den Himmel, atmete die frische, nach Salz duftende Luft. Ein klarer Herbsttag, der einen immer noch den vergangenen Sommer spüren ließ.
Und doch war heute etwas anders.
Ähnlich wie die Tiere hatten auch die Menschen, die seit Generationen in dieser einmaligen Landschaft lebten und arbeiteten, einen siebten Sinn für das Wetter entwickelt. Die Nordfriesen verstanden sich selbst als Teil der pulsierenden Natur, des Wechsels der Gezeiten von Ebbe und Flut. Früher als andere ahnten sie, wenn Wind aufkam, wussten, wie lange die Sonne schien und wie hoch die Tide ausfiel.
Wieder glitt eine Brise über das Mädchen hinweg. Wieder aus Osten, was hier an der Nordsee schon ungewöhnlich genug war. Sie runzelte die Stirn, versuchte, ihre Sinne auf dieses Phänomen einzustellen. Endlich glaubte sie zu verstehen.
Eine Warnung.
Pass auf, etwas Schlimmes wird bald passieren!
Es war nicht nur der Wind, es war die Stille.
Keine Möwen kreischten am Himmel. Ihre Schafe drückten sich stumm aneinander. Die Hühner gackerten nicht, sondern scharrten unruhig auf der trockenen Erde. Selbst das Rauschen des Meeres hinter dem Deich war nur seltsam gedämpft zu vernehmen.
Als hielte die Welt den Atem an.
Das Mädchen schaute sich um. Im nahen Haus konnte sie sehen, wie ihre Mutter umherging und das Abendessen vorbereitete. Ihr Vater und ihr Bruder arbeiteten im Stall, schlugen Stahl auf dem Amboss. Das gleichmäßige Hämmern klang wie das Schlagen einer Totenglocke.
Wieder traf ein Windstoß das Mädchen. Dieses Mal nur ein zartes Stupsen. Die Aufforderung eines Unbekannten, ihm zu folgen.
Sie schüttete das restliche Korn vor die Hühner, legte den Beutel zur Seite und machte sich auf den Weg zum Deich. Sie trug keine Schuhe, spürte den weichen Sand und das festgetretene Gras unter ihren nackten Füßen. Sie ging durch ein kleines Gatter und stieg dann an mehreren Schafen vorbei die Anhöhe hinauf auf die Deichkrone.
Kaum konnte sie mit dem Kopf über die Spitze blicken, da erfasste sie eine weitere, viel heftigere Böe, wirbelte ihr Leinenkleid und ihre Haare durcheinander und schob sie wieder zurück. Die letzten Meter musste sie sich gegen den Wind stemmen, um auf den Deich zu kommen.
Was sie dort sah, nahm ihr augenblicklich den Atem. Durch den ablandigen Ostwind glänzte das nahe Meer fast wie ein Spiegel. Doch dahinter, noch am fernen Horizont, wälzte sich eine gewaltige dunkle Wolkenfront auf die Küste zu. Wie ein lebender Organismus wölbten sich einzelne Strudel und riesige schwarze Wirbel nach vorne, schoben Regen und Sturm vor sich her und brachten das Meer zum Kochen.
Noch war das Unwetter weit entfernt. Sie sah, wie Blitze aus den Wolken brachen, konnte aber noch keinen Laut hören. Doch auf der Haut spürte sie eine seltsame Spannung. Wie ein Nadelkissen, das sich auf ihre nackten Arme und Beine drückte.
Was hatte das zu bedeuten?
Das Mädchen hatte bereits einige Sturmfluten miterlebt. Orkane mit verheerenden Folgen für die gesamte Küste. Sie hatte abgedeckte Höfe gesehen, umgefallene Bäume und zerstörte Deiche.
Aber noch nie hatte sie ein Monster wie diesen Sturm erlebt. Überwältigt von dem Anblick, fragte sie sich, ob sie dem Teufel gegenüberstand oder dem strafenden Gott, der seine Schöpfung von allen Sünden reinwaschen wollte.
Gebannt starrte sie zum Horizont, gleichzeitig fasziniert und verängstigt. Sie breitete die Arme aus, um die ungeheure, göttliche Kraft in sich aufzunehmen. Nicht mehr lange und das Unwetter würde auf die Küste treffen. Sie war ein einfaches Mädchen, wusste fast nichts von der Welt und hatte Eiderstedt noch nie verlassen. Aber sie war sicher: Dieser Sturm würde alles verändern. Indem er alles zerstörte.
2
Es war magisch. Das rauschende Wasser. Der in der Nacht leuchtende weiße Strand. Die vielen jungen Leute, die im Sand lachten und das Leben feierten. Die bunten Lichter der Schiffe, die auf dem großen Fluss in den Hafen fuhren. Gerade glitt die graue Wand eines betagten Frachters vor ihren Augen vorbei. Blinkende Schlepper begleiteten ihn, schoben ihn vorsichtig durch die dunklen Fluten der Elbe Richtung Blankenese hinaus aus der Stadt. Langsam verschwand das graue Ungetüm und gab die Sicht frei auf das gegenüberliegende Ufer, wo sich der gewaltige, hell erleuchtete Containerhafen von Waltershof befand. Es war bereits fast Mitternacht. Trotzdem herrschte dort noch immer geschäftiges Treiben, der schrille Klang von Metall auf Metall wehte über die Elbe. Menschen waren auf der anderen Seite kaum zu sehen. Dafür zahllose Kräne, die ihre Lasten wie riesenhafte Insekten auf die Schiffe hoben, die vor ihnen im Hafenbecken lagen und geduldig auf ihre Fracht warteten. Im Vergleich zu den stählernen Kolossen sahen die LKWs auf dem Pier wie Spielzeug aus.
Nelly streckte die nackten Beine aus, drückte ihre Füße in den noch warmen Sand und seufzte zufrieden. Hamburg, ihre Heimatstadt, war voller wunderschöner Orte. Orte, an denen man sich fallen lassen, Zeit und Raum vergessen konnte. Sie liebte es, mit einem Kanu durch die unzähligen Seitenarme der Alster zu gleiten. Durch die Obstgärten im Alten Land zu spazieren und Kirschkerne in die Luft zu spucken. Im Stadtpark zwischen den hochgewachsenen Rhododendronbüschen ein Buch auf einer einsamen Bank zu lesen. In einem Café am Jungfernstieg zu sitzen und zu beobachten, wie die Nacht die Straßen im Zentrum der pulsierenden Metropole zum Leuchten brachte.
Aber am meisten liebte sie es hier, mitten in der Stadt, in Övelgönne, zwischen dem ehemaligen Fischerdörfchen in Altona und der Elbe, im Sand zu sitzen. Und dabei hinaus auf den Fluss und hinüber auf den Hafen zu schauen. Dort, wo sich im Hintergrund die Köhlbrandbrücke elegant über die Schiffe erhob und der glitzernde Strom unzähliger Autos im Elbtunnel verschwand.
Nicht unbedingt ein Geheimtipp. An einem warmen Sommerabend drängten sich am Strand so viele Menschen, dass es kaum möglich war, noch einen freien Platz zu finden.
Auch zu so später Stunde saßen hier noch überall junge Leute im Sand. Nelly wollte ihre Ruhe. Sie hatte sich etwas abseits von der Menge eine Stelle unter einem Baum gesucht, auch wenn hier überall kantige Steine lagen. Mit einem seligen Lächeln ließ sie den Blick über das überwältigende Panorama schweifen und wartete auf ihre Schwester Ina. Die beiden hatten gelost. Ina hatte verloren und musste sich bei der Strandperle, einer kleinen, aber exklusiven Strandbar, für zwei Cocktails anstellen.
Nelly legte ihren Kopf nach hinten auf ihre verschränkten Hände und blickte in den Himmel. Die Sterne waren von dunklen Wolken verdeckt und die Luft roch nach Regen. Wurde Zeit, dass Ina endlich zurückkam. Lange konnten sie nicht mehr bleiben.
Plötzlich ein Hüsteln, ganz in ihrer Nähe.
»Schöner Abend, was?«, hörte sie eine leicht heisere Stimme hinter sich. Überrascht drehte sie sich um und blickte in das verlegen lächelnde Gesicht eines jungen Mannes, kaum älter als sie. Der aufkommende Wind, der vom Wasser über den Strand strich, wirbelte seine Haare durcheinander. Auf der Stirn konnte sie eine kleine Narbe sehen.
»Darf ich mich zu dir setzen?«, fragte er Nelly und grinste.
Ina stand immer noch vor der Strandperle, obwohl sie die beiden Mojitos längst bekommen und bezahlt hatte. Der Grund war Marc aus Berlin. Er hatte sie an der Kasse angesprochen. Strubbelige, blonde Surferhaare, ein Captain-America-T-Shirt, das eng auf seinem muskulösen Oberkörper anlag. Dazu kräftige, braungebrannte Beine. Genau ihr Typ. Und witzig war er auch noch. Gerade hatte er sie mit einem Bericht über seinen chaotischen Shopping-Tag in der Hamburger Innenstadt zum Lachen gebracht. Marc war zusammen mit zwei Kumpels nach Övelgönne gekommen. Doch die beiden nippten nur an ihrem Astra und schauten sich stumm nach anderen Mädchen um. Tatsächlich hatte Ina nur Augen für Marc.
»Wollen wir uns nicht an die Bar stellen? Bevor auch das letzte Eis geschmolzen ist?« Er lächelte und zeigte auf die beiden Cocktails, die Ina immer noch in der Hand hielt. Irritiert blickte sie auf die Gläser und sah, dass er recht hatte. Himmel, wie lange standen sie jetzt schon hier?
»Nein, ich muss zurück zu meiner Schwester. Die ist sicher schon sauer, weil sie so lange alleine da draußen warten muss.«
»Jetzt sei nicht so. Bleib doch noch einen Moment. Ich bestell dir anschließend auch zwei neue Mojitos.«
Ina sah in seine blauen Augen, die im Licht der Bar leuchteten. Sie grinste und wollte sich gerade zurück zum Tresen schieben lassen, als ihr ein Regentropfen auf die Stirn klatschte. Und noch einer. Drüben auf der anderen Seite der Elbe riss ein Blitz den Himmel über den Hafenanlagen auf. Urplötzlich ging ein heftiger Sturzregen auf den Strand nieder. Sofort kam Bewegung in die Menge. Überall erklangen überraschte Schreie und lautes Lachen. Einige Verwegene blieben sitzen, doch die meisten sprangen auf, liefen über den Sand, um einen Platz unter dem Dach der Strandperle zu ergattern.
Auch Marc griff nach ihrer Hand und versuchte, sie zur Bar zu ziehen.
»Los, komm, oder willst du klitschnass werden?«
Mit überforderter Miene sah Ina sich um, wurde von den hereinströmenden Menschen hin und her geschoben. Sie schüttelte den Kopf und drückte Marc die beiden Cocktailgläser in die Hand.
»Nein. Ich muss zu Nelly!«
Bevor Marc etwas erwidern konnte, rannte Ina los, drängelte sich den anderen jungen Leuten entgegen, zurück auf den Strand.
Der Regen wurde mit jedem Augenblick schlimmer. Schon nach ein paar Schritten klebte Inas Sommerkleid eng an ihrem Körper. Dicke Tropfen liefen ihr über die Stirn und brannten in ihren Augen.
»Nelly!« Immer wieder rief sie den Namen ihrer Schwester in das Unwetter, suchte in den erschrockenen Blicken der Mädchen, die versuchten, sich ins Trockene zu retten, die großen Augen ihrer kleinen Schwester. Aber überall nur fremde Gesichter. Kaum vorstellbar, dass Nelly da draußen auf sie wartete.
Verdammt, ich hätte sie nicht alleine lassen dürfen!
Wieder zuckte ein Blitz über der Elbe, der Donner ließ die Luft erzittern. Ina hielt jetzt ihre Sandalen in der Hand, rannte barfuß durch den nassen Sand, zurück zu der abgelegenen Stelle, wo sie ihre Schwester vor viel zu langer Zeit alleine gelassen hatte.
Eine unangenehme Hitze breitete sich langsam in ihrem Bauch aus. Das Gefühl, dass etwas nicht stimmte. Dass etwas Schlimmes passiert war.
Immer lauter rief sie Nellys Namen, stolperte, konnte erst im letzten Moment verhindern, der Länge nach in den Strand zu fallen.
Verdammt, wo steckt sie nur?
Endlich erkannte sie die langen Beine ihrer Schwester, der Oberkörper lag im Schatten der Weide.
Warum war sie nicht ins Trockene geflüchtet?
Und wer war der Mann, der neben ihr im Sand hockte?
»Nelly?!« Inas Stimme versagte, sie hustete, als sie weiterlief.
Der Mann hörte ihren gebrochenen Schrei. Er hob den Kopf, aber sie konnte sein Gesicht nicht erkennen. Nelly dagegen rührte sich nicht. Mit ausgestreckten Armen lag sie regungslos auf dem nassen Boden.
Was um Himmels willen...?
Der Mann sprang auf, er trug eine Stoffhose, ein helles Hemd. Seine Haare klebten am Kopf. Aber das Gesicht konnte sie noch immer nicht erkennen. Mit langen Schritten lief er davon, verschwand im Dickicht vor dem Uferweg, der hinter dem Strand bis nach Blankenese führte.
Endlich hatte sie Nelly erreicht. Sie schaute auf ihre Schwester herab, hielt sich die Hand vor den Mund. Das grenzenlose Entsetzen ließ sie verstummen.
Nelly, ihre über alles geliebte kleine Schwester, lag vor ihr. Doch Ina konnte sie nur an ihrer Kleidung erkennen. An den frechen kurzen Bermudas, der Blümchenbluse, ihre liebste Bluse, die sie im Sommer praktisch nie auszog. Der Ring in Form einer blühenden Rose, den sie auf der rechten Hand trug und den sie, Ina, ihr zum 16. Geburtstag geschenkt hatte.
All das erkannte sie wieder. Aber nicht ihr blutiges, zerschlagenes Gesicht.
Sie ging entsetzt in die Knie, starrte wie gelähmt auf den toten Körper, der vor ihr im Sand lag, spürte nicht, wie eine heftige Böe an ihr zog.
Wieder ein Aufleuchten. Donnergrollen. Das Gewitter war jetzt über ihr. Sie hob den Blick, langsam, wie an Fäden gezogen.
Da war er. Er stand auf dem Uferweg, hinter einem Busch und schaute zu ihr hinab. Und nun sah sie zum ersten Mal im Licht eines weiteren Blitzes die aufgerissenen Augen, die dunklen Haare, sein im Regen glänzendes Gesicht. Die seltsam abwesende, mitleidlose Miene. Das Blut an seinen Händen. Für einen kurzen klaren Moment trafen sich ihre Blicke. Ein junger Mann, kaum älter als sie.
Dann war es wieder dunkel. Ina schaute erneut zu ihrer Schwester. Auf einmal drehte sich alles. Ihre Knie gaben nach, sie verlor die Kontrolle über ihren Körper. Und verschwand in einem endlos schwarzen Nebel.