Als stünde die Welt in Flammen. Wolkenschichten, die lautlos wie Kulissen auf einer gewaltigen Theaterbühne schwebten. Ihr funkelndes Spiegelbild in der glatten Nordsee. Darauf ein einsamer Krabbenkutter, der das glänzende Wasser durchschnitt, über sich nur der Himmel und ein stumm dahingleitender Schwarm Möwen, der dem Schiff hinaus auf das Meer folgte. All das erstrahlte in zahllosen Rot- und Orangetönen vor der schillernden Scheibe der Abendsonne am Horizont. 

Der Mann mit der kurzen Hose und den Gummistiefeln saß auf einer Bank und betrachtete dieses einmalige Schauspiel. Seine roten Haare leuchteten wie eine Fackel. Vor ihm lagen die endlosen Salzwiesen, der Seehafer bog sich in einer sanften Brise. Wo begann die Nordsee, wo hörte das Land auf? Von seiner Position aus war es unmöglich, das zu erkennen. Ein Mann, alleine in der Natur. 

Aber saß er wirklich auf der Bank, um Zeuge dieses Wunders zu werden? 

Das unrasierte Gesicht zeigte nicht die geringste Regung. Kein Lächeln, keine Freude. Der leere Blick der starren Pupillen schien nichts von der Schönheit wahrzunehmen, die ihm der liebe Gott zu Füßen legte. 

Mit durchgedrücktem Rücken saß er da, die gespreizten Hände abgelegt auf den Knien, wie eine abgestellte Holzpuppe. Nur der Brustkorb hob und senkte sich unter dem verwaschenen T-Shirt, noch war also Leben in ihm. 

Und doch war er gerade in einem anderen Universum. 

Das einzigartige Schauspiel vor seinen Augen näherte sich dem Höhepunkt. Die Sonne begann, hinter dem Horizont zu verschwinden. Langsam, aber stetig versank die orange Scheibe in der Nordsee, veränderte in den letzten Augenblicken ihre Form, wurde zu einem schillernden Oval, zerlief wie ein goldener Farbklecks. Schließlich explodierte das Licht, ein letzter leuchtend-grüner Blitz, dann war von der Sonne nichts mehr zu sehen. 

Aber noch immer war der Himmel erfüllt von ihrem Glanz. Er reichte, um die Salzwiesen zum Strahlen zu bringen und spiegelte sich in den Augen des Mannes. 

Mit einem Ruck richtete er sich auf, wie von unsichtbaren Fäden in die Höhe gezogen. Für einen kurzen Moment schien er einer fernen Stimme zu lauschen, legte mit verlorener Miene den Kopf zur Seite. Dann streckte er sich wieder. Wie eine aufrechte Birke stand er mitten in der flachen Ebene, die Arme eng an die Beine gelegt. Ein letztes Mal ging der Blick zum Horizont. Keine Regung, die braungebrannte Stirn angespannt, die Lippen zusammengepresst zu einem Strich. Nur eine einsame Träne lief ihm über das Gesicht. 

Er drehte sich um in zwei ruckartigen Bewegungen, erst nach rechts, dann nach hinten. Wie ein Roboter schob er den Körper um die schiefe, von Moos überzogene Bank herum. 

Vor ihm erhob sich ein riesiger Leuchtturm, die roten und weißen Ringe strahlten trotzig im letzten Abendlicht. Er war gewaltig, bis hinauf in den Himmel reichte seine Spitze, von wo aus lange Strahlen hinaus in die Marsch und über das Meer strichen. Rechts und links standen zwei kleine Häuser mit hellen Wänden und roten Dächern. Ein König mit seinen Adjutanten, gemeinsam wachten sie über die Küste. 

Mit festen, aber seltsam steifen Schritten verließ der Mann die Bank und marschierte zurück zum Leuchtturm. Je näher er kam, desto mächtiger ragte er vor ihm auf. Doch er hatte kein Auge für dieses Symbol menschlicher Erfindungskraft. Er schaute nur nach unten, folgte dem kleinen Pfad, der ihn von hinten zu der Gebäudegruppe führte. An einer Schranke vorbei betrat er das Grundstück. Er blieb kurz stehen, spürte den Wind in den vom Salzwasser verklebten, roten Haaren, lauschte dem Kreischen der Möwen. Aus einem der Häuser hörte er Lachen und Musik. Junge Leute, die ausgelassen feierten. 

Mit einem Ruck setzte er sich wieder in Bewegung. Er ging zu einem kleinen Schuppen, der versteckt hinter einem der beiden Gebäude lag. An der Wand hingen Flaschen, Netze, Gummistiefel, Plastiktüten, Autoreifen und vieles mehr. Müll, der in den Salzwiesen und im Watt gefunden wurde, eine Warnung, dass dieses Paradies nicht weiter verschmutzt werden durfte. 

Doch der Mann hatte keinen Blick mehr für so irdische Probleme. Er ging in den Schuppen hinein, schob Schaufeln, Fahrrädern und Rasenmäher beiseite, bis er fand, was er gesucht hatte: ein langes Seil. 

Er nahm es mit hinaus auf den Rasen, stellte sich in den Schatten des großen Turms. Den Blick zum Horizont gerichtet, wo der Tag sich jetzt mit einem letzten Glimmen endgültig verabschiedete, schnürte er einen Seemannsknoten. Unzählige Male hatte er das schon getan. Er musste nicht mehr hinschauen, die Hände wussten auch so, was sie zu tun hatten. 

Schließlich war er fertig. Seine Augen glänzten im Dämmerlicht wie schwarze Höhlen, als er die Schlinge kontrollierte und prüfte, ob sie sich auch tatsächlich mit einem Ruck schloss. 

Natürlich tat sie das. Keiner konnte besser Knoten schnüren als er. 

Es war so weit. Zeit, den letzten Schritt zu tun. 

Er ging um den Leuchtturm herum, kramte in der Tasche nach einem Schlüsselbund und öffnete die schwere Tür. Das Metall knirschte, als er sie aufstieß. Die vom warmen Tag aufgeheizte Luft entwich mit einem Rauschen, sonst blieb alles ruhig. 

 Mit unbewegter Miene stand er vor dem dunklen Loch und blickte in das Innere des Turms, in der Hand das Seil mit der Schlinge. 

Es gab kein Zurück mehr. 

Oder doch? 

Etwas hatte sich verändert. 

Zweifel, auf einmal. 

Was tue ich hier?, schienen seine Augen plötzlich zu fragen. Er schwankte. Die Hände zu Fäusten geballt stemmte der Mann sich mit aller Macht gegen eine unsichtbare Kraft, die ihn aufforderte, weiter zu gehen. Sich dem Schicksal zu stellen. 

Er atmete schwer, unfähig sich zu rühren, alles hinzuwerfen und einfach wegzulaufen. 

Ein letzter Kampf, ein letztes Zögern. 

Umsonst. 

Wieder ging ein Ruck durch den Körper, wieder begann ein unsichtbarer Spieler die Fäden zu ziehen. Der Mann streckte den Rücken, blickte mit aufgerissenen Augen in den Leuchtturm, den Ort, wo die Geschichte für ihn enden würde. 

Er verzog keine Miene. Seine Hand zitterte, sein kompletter Körper zitterte. 

Erneut blickte er auf die Schlinge, die er in der Hand hielt, hörte noch einmal die ferne Musik einer Gitarre und das Lachen der Jugendlichen aus dem Haus. 

Zu spät, es war viel zu spät. Jetzt gab es kein Zurück mehr. Der Mann hob den Fuß und verschwand im Inneren des Leuchtturms.