KALTE STRÖMUNG LESEPROBE  


Schneller, sie hatte keine Zeit. Sie musste sich beeilen. Mit weiten Schritten lief sie den einsamen Strandweg entlang, auf dem Rücken einen kleinen Rucksack, vor der Brust in einem Tuch ihr Baby. Immer wieder schaute sie sich um.
Hatte er mitbekommen, dass sie das Haus verlassen hatten?
Nein, er hatte im Bett gelegen und geschnarcht. Genauso, wie sie es geplant hatte. Um sicherzugehen, dass er ihrem Vorhaben nicht im Weg stand, hatte sie ihm am Abend sogar etwas Schlafmittel in den Wein geträufelt.
Trotzdem.
Es blieb das Gefühl, dass er jeden Moment hinter ihr auftauchen konnte. Oder plötzlich vor ihr auf dem Weg wartete. Mit seinem schiefen Lächeln voller Spott und Verachtung. Einem Lächeln, das gleichzeitig auch seine kranke Liebe für sie zeigte. Seine Besessenheit. Und die Angst, sie zu verlieren.
Wie sie dieses Lächeln hasste.
Sie schaute nach oben in den Himmel. Nachdem der Tag so freundlich und sonnig begonnen hatte, schoben sich seit dem Abend vom Meer her graue Wolken übers Land. Ein böses Omen dafür, dass ihre Flucht scheitern würde? Sie schüttelte den Kopf. Nein, so war es perfekt. Eine klare, helle Nacht konnte sie überhaupt nicht gebrauchen.
Zum wiederholten Mal tastete sie in den Taschen ihrer Jacke nach den Papieren und dem Geld. Hatte sie nichts vergessen? Etwas übersehen? Egal, Schluss mit der Grübelei, sie musste jetzt nach vorne schauen. Ins Haus konnte sie sowieso unmöglich noch einmal zurückkehren.
Und das Wichtigste trug sie an ihrer Brust. Verliebt schaute sie auf ihr Baby, sog den vertrauten süßen Duft ein. Kaum zu glauben: Der Kleine war wach, gab jedoch keinen Pieps von sich, sondern blickte sie nur mit seinen großen, weisen Augen an. Ob er begriff, dass es sich nicht um einen normalen Ausflug handelte? Dass er genau wie sie in großer Gefahr schwebte?
Zärtlich strich sie ihm mit der Hand über das kleine, unschuldige Gesicht. War sie eine schlechte Mutter, wenn sie ihr Kind so einem Risiko aussetzte? Es durch diese Flucht in Lebensgefahr brachte?
Nein, was sie tat, tat sie vor allem für ihn. Ihr kleiner Schatz hatte so ein Leben in Dunkelheit und Hass nicht verdient. Sie musste ihn fortbringen, so weit weg wie möglich. Hier, in diesem Haus am hohen Kliff erwarteten ihn nur Kummer und Schmerzen.
Wieder drehte sie sich um, blieb stehen. Hatte sie nicht ein leises Knirschen gehört? Einen Ast, der unter schweren Stiefeln brach?
Nein, nichts zu sehen. Hinter ihr schlängelte sich der Weg an der mit Brombeerbüschen bewachsenen Böschung entlang. Die langen dornigen Ranken griffen nach ihren nackten Beinen, als wollten sie sie in diesem Gefängnis zurückhalten.
Für einen Moment lauschte sie in die rauschende Stille der Nacht. Die ganze Welt schlief. Sie hörte nur das gleichmäßige Plätschern der Wellen, das müde Schnattern einiger Gänse, die unsichtbar im hohen Gras am Meer kauerten.
Und sie hörte das sanfte Rufen des Windes.
Hab keine Angst, ich trage dich weg von ihm. Zurück in die Freiheit.
Alles in Ordnung.
Sie stöhnte, atmete aus. Nein, nichts war in Ordnung. So kurz vor dem Ziel spürte sie die ständige Bedrohung durch ihn besonders intensiv. Wie ein großer Stein lag sie auf ihrer Brust, ein Schatten, der ihr den Atem nahm.
Sie dachte an ihre gemeinsame Zeit zurück.
Am schlimmsten war seine Übergriffigkeit, sein krankhafter Wunsch, jede Minute ihres Lebens zu überwachen. Ob beim Einkaufen im Dorf, beim Einkaufsbummel oder – was selten vorkam – bei ihren Besuchen in den Restaurants an der Strandpromenade. Immer blieb er an ihrer Seite, kontrollierte, was sie tat, mit wem sie redete, ja, wen sie auch nur anschaute. Als wäre sie sein Eigentum und kein lebendiges Wesen mit einem eigenen Willen.
Sie war immer ein freundlicher, geselliger Mensch gewesen, der mit offenen Armen auf andere zuging. Doch das hatte sich nach und nach geändert. Sie hatte sich verändert. Anfangs hatte sie sich noch gewehrt, protestiert und nach mehr Raum für sich verlangt. Doch in letzter Zeit hatte sie sich immer wieder dabei ertappt, wie sie sich in vorauseilendem Gehorsam auch dann in seinem Sinne verhielt, obwohl er gar nicht in der Nähe war.
Als hätte er sie dressiert. Als wäre sie sein Besitz, ohne Recht auf eine Meinung und eigene Interessen.
Jetzt war Schluss damit. Nicht mehr lange, dann würden sie und der kleine Schatz in ihren Armen frei sein und einen Neuanfang wagen. In einem anderen Land mit Menschen, die sie kannten und liebten.
Sie schloss die Augen, atmete die frische Meeresluft ein, stolz, dass sie endlich den Mut dazu gefunden hatte.
Wie kannst du nur so eine Egoistin sein und einfach davonlaufen?, fragte eine schrille Stimme, seine Stimme, die sie einfach nicht aus ihrem Kopf verbannen konnte. Du weißt, dass du mir das Herz brichst!
Nein, nicht! Sie schüttelte sich, wollte endlich aus der Dunkelheit treten, zurück ins Licht. Ihn nicht mehr in ihrem Leben haben.
Es ging um ihre Zukunft.
Und um die des kleinen Jungen, den sie direkt an ihrem Herzen trug. Sie hatte sich entschieden. Endlich! Weg, nur weg! Viel zu lange hatte sie es mit diesem Irren ausgehalten.
Nur ein paar Minuten später hatte sie den Steg erreicht, der weit hinaus ins Meer reichte und an dessen Ende das kleine Kabinenboot leise gurgelnd auf den Wellen hin und her schaukelte.
Mit dem Auto wäre es leichter gewesen zu verschwinden. Einfach den Schlüssel umdrehen und los. Über die Grenze und dann weit, weit weg von hier.
Aber das ging nicht.
Nicht nur, weil sie vorhin selbst zu viel Rotwein getrunken hatte. Um sich Mut zu machen. Um ihm das Gefühl zu geben, alles wäre in Ordnung, obwohl sie sich bereits entschieden hatte.
Nein, das Auto war keine Option. Auch deshalb, weil er seit langem die Autoschlüssel vor ihr versteckte, damit sie nicht ohne seine Begleitung und seine Kontrolle irgendwelche Ausflüge unternahm.
Dann also mit dem Schiff.
Noch einmal schaute sie sich hinter einem Busch stehend um, vergewisserte sich, dass die Luft rein und er ihr nicht gefolgt war, um sie im letzten Moment doch einzufangen.
Sie spürte einen leisen Stupser an ihrem nackten Arm und zuckte erschrocken zusammen.
Aber es war nur ihr Baby, das sie mit seinem winzigen Händchen berührt hatte. Immer noch hellwach lag er in seinem Tuch. Sie drückte ihn an sich, küsste ihn zärtlich auf die Stirn.
„Keine Sorge, ich gebe jetzt nicht mehr auf“, flüsterte sie ihm in sein so wundervoll duftendes Öhrchen.
Dann rannte sie los. Die letzten Meter über den knirschenden Sandpfad und schließlich leise tapsend schnell über die glatten, in der Stille knarrenden Holzplanken zum Schiff.
Endlich war sie da.
Wieder drehte sie sich um, meinte erneut, ein leises, sirenengleiches Rufen gehört zu haben.
Doch am Ufer war nichts zu sehen von ihm. Und in die andere Richtung nur der endlose Blick zum Horizont.
Kaum zu glauben, sie hatten es geschafft. Der Rest war ein Kinderspiel. Sie würde aus seinem Leben verschwinden und keine Spur hinterlassen. Vorsichtig, die Hände immer schützend über dem Kopf des Babys stieg sie in das kleine, schwankende Schiff hinab. Dann wendete sie sich zum Außenbordmotor und senkte ihn langsam ins dunkle Wasser.
Sie waren schon oft mit dem kleinen Boot hinausgefahren. Natürlich hatte er sich immer um alles gekümmert. Aber sie hatte genau aufgepasst, damit sie später wusste, was zu tun war.
Als Nächstes brauchte sie das Starterkabel. Eigentlich lag es unter dem Sitz neben dem Außenborder, aber so sehr sie dort herumkramte, sie konnte das Kabel nicht finden.
„Suchst du das hier?“, hörte sie auf einmal eine tiefe Stimme hinter sich. Seine Stimme. 
Eine Faust legte sich um ihr Herz, drückte erbarmungslos zu. Zitternd richtete sie sich auf und drehte sich um. 
Da stand er vor ihr, mit dem Kabel in der Hand. Er musste sich in der Kabine versteckt, dort auf sie gewartet haben. 
„Schatz …“, flüsterte sie mit auf einmal staubtrockenen Mund. 
Er schüttelte stumm den Kopf, wollte nichts hören, und sie wusste auch nicht, was sie ihm sagen sollte. Passierte das gerade wirklich? War sie für alle Zeit in diesem Albtraum gefangen? 
„Der gepanschte Wein. Deine Lügen. Hast du wirklich gedacht, ich fall auf dein falsches Spiel herein?“, sagte er mit eisiger Stimme. Kein Vorwurf, eine Feststellung. 
Sie ließ die Schultern hängen. Sie war verflucht, ohne jede Chance, ihm zu entkommen. 
Er musterte sie mit seinen dunklen Augen. „Wie konntest du mir das nur antun?“ 
Sie schüttelte den Kopf, zuckte hilflos mit den Schultern. Tränen liefen ihr über die Wangen, als sie ihr Baby an sich drückte. 
Er zog den anderen Arm hinter dem Rücken hervor. Sie erstarrte, als sie sah, was er in der Hand hielt. Plötzlich fühlte es sich an, als würde ihr Geist sich von ihrem Körper lösen. 
„Aber du hast dich getäuscht. Ich lasse mich von dir nicht hinters Licht führen. Und niemals“, fuhr er mit seiner Schlangenstimme fort und hob den Hammer in die Höhe, „niemals werde ich zulassen, dass ihr beide mich im Stich lasst.“