Leseprobe Kalte See:


Gemeinsam mit den anderen Fahrgästen schoben sie sich über eine lange Landungsbrücke hinunter zum Hafengelände. Krumme beobachtete die Familien, Männer, Frauen, Kinder und Jugendlichen, die sich ausgelassen plappernd auf ihren Urlaub freuten. Was sie wohl sagen würden, wenn sie erführen, dass es auf der Insel einen Mord gegeben hatte? Musste man die Menschen nicht warnen? Zumindest die Frauen? Er musste an den Film Der weiße Hai denken. Auch da strömten zahllose Badegäste auf eine Insel, ohne zu ahnen, dass eine hungrige Bestie auf sie wartete.

»Sieh doch nicht immer nur auf die dunkle Seite der Welt«, hörte er in Gedanken Mariannes mahnende Worte. Sie mochte es gar nicht, wenn er überall nur Verbrecher und Psychopathen sah. Aber das war nun mal sein Job. Einer musste es ja tun, damit die normalen Leute sich keine Gedanken machen und in Frieden leben konnten. Krumme sah die vielen Urlauber. Die, die neu auf die Insel kamen, und die, die im Hafen warteten und mit der Fähre nach Hause fahren wollten. Und in diesem Gewimmel sollten sie ihren Täter finden? Krumme wurde bewusst, dass das vermutlich nicht so leicht werden würde.

»Moin, sind Sie der Kommissar aus Berlin?«, hörten sie auf einmal eine männliche Stimme im breitesten Norddeutsch. Krumme und Pat drehten sich um. Vor ihnen stand ein junger Beamter in Polizeiuniform, kaum älter als Pat. Das gegelte, strubbelige Haar glänzte in der Sonne. Den Kopf hielt er nach vorne gestreckt, wie ein Geier. Ein Eindruck, der durch die leicht hängenden Schultern noch verstärkt wurde. Ein Trottel, dachte Krumme sofort. Immerhin: ein freundlicher Trottel. Mit seinem breiten Mund strahlte er übers ganze Gesicht.

»Wir kommen aus Husum«, beantwortete Krumme die Frage.

»Schon klar.« Der junge Mann grinste. »Polizeimeister Boje Hansen, zu Ihren Diensten. Der Chef hat gesagt, ich soll Sie abholen.«

Sie stellten sich vor und gingen dann zum Wagen, der neben dem Anleger auf dem Parkplatz stand – im absoluten Halteverbot. Aber Krumme wollte es sich nicht gleich am Anfang mit ihrem neuen Kollegen verderben, also ließ er es auf sich beruhen.

»Wie haben Sie uns so schnell erkannt?«, fragte er, als sie ihr Gepäck in den Kofferraum des Polizeipassats stopften.

»Na, das war ja wohl nicht schwer.« Er zeigte vertraulich-zwinkernd zu Pat, die einen Kopf größer als er war und in ihren schwarzen Klamotten wie ein dunkler Racheengel neben dem Wagen stand. Krumme nickte nur. Trotzdem ging ihm das einfältige Grinsen des Polizeimeisters auf die Nerven.

»So, ab ins Hotel, oder?«, erkundigte sich Boje gut gelaunt, als sie zu dritt im Auto saßen, die große Pat vorne, Krumme hinten.

»Nein, wir sind ja nicht zum Urlaub hier. Wir würden gerne den Tatort sehen.«

»Aber dann müssten wir ein bisschen fahren.«

»Dafür sind Sie doch da, oder nicht?«

Boje hob die Hände. »Okie-Dokie«, sagte er. Dann startete den Motor.

Es dauerte eine Weile, bis sie bei dem vielen Verkehr vor der Fähre das Hafengelände verlassen hatten. »Bannig was los heute«, kommentierte Boje. Er hatte das Fenster heruntergelassen und wedelte mit der Linken in der Luft, um Passanten zu verscheuchen, die vor dem Auto vorbeilaufen wollten.

»Das erste Mal auf Föhr?«, fragte er.

»Ich war früher oft hier, als Kind«, erwiderte Pat, die sich wie in allen Autos auch in dem Passat unwohl fühlte. Sie war einfach zu groß und stieß mit dem Kopf ans Dach.

Als sie die Menschenmassen hinter sich gelassen hatten, bogen sie vor dem Wyker Zentrum ab und verließen den Ort nach ein paar Kilometern Richtung Westen. Krumme schaute aus dem Fenster. Schon bald verlor sich der Eindruck, auf einer Insel zu sein. Man sah nichts als weite grüne Felder, fruchtbare Marsch und überall natürlich Rinder und Schafe.

Nach nur wenigen Minuten Fahrt hatten sie Nieblum erreicht, ein altes Friesendorf wie aus dem Tourismuskatalog. Bauernhäuser mit Reetdach, gemütliche kleine Cafés, gepflegte Wiesen mit edlen Pferden. Auf der Hauptstraße kam ihnen auf dem Kopfsteinpflaster sogar eine Kutsche entgegen. Allerdings nicht nur die, sondern auch viele Autos, die meisten davon mit Kennzeichen aus Köln, Düsseldorf und anderen nordrhein-westfälischen Städten. Auf den Bürgersteigen überall Touristen, die durch die Gassen bummelten und sich die Auslagen der zahlreichen Andenkenläden anschauten.

So viele Menschen, dachte Krumme. Ob ihr Mörder auch darunter war?

Vorne versuchte sich Boje bei Pat als Fremdenführer. Doch bei ihm ging es nicht um die historischen Daten, sondern die Kneipen der kleinen Gemeinde.

»Da vorne bin ich mal total abgestürzt, aber sowas von«, erklärte er Pat feierlich. »Filmriss, keine Ahnung, wie ich nach Hause gekommen bin.«

Krumme beugte sich nach vorne und zeigte auf ein altes, ehemaliges Bauernhäuschen. »Ist das das Café, das der Toten gehörte?«

Boje sah ihn verständnislos an. Die Unterbrechung hatte ihn aus dem Konzept gebracht. Dann blickte er aus dem Fenster und nickte. »Jo, die ›Dünenrose‹. Hier hat Maja gestern noch gearbeitet, bevor sie ... « Er schluckte und warf Pat einen betroffenen Blick zu.

»Kannten Sie sie? Frau ... « Krumme hatte ein kleines Notizheft herausgeholt und schaute hinein. »Frau Hayen?«

»Maja? Klar. Die kennt hier jeder. Die ist auf Föhr geboren. Ihr Café ist eines der besten auf der Insel. Der Kuchen ist superlecker.« Den letzten Satz sagte er wieder zu Pat, als wenn er sie später dazu einladen wollte. Krumme nickte und lehnte sich zurück. Boje bog von der Hauptstraße ab. 

Zum Strand stand auf einem kleinen Schild. Und tatsächlich: Nach ein paar hundert Metern verließen sie Nieblum und fuhren über einen schmalen Weg Richtung Meer. Schließlich hatten sie ihr Ziel erreicht. Boje parkte den Wagen in einer kleinen Kehre, direkt neben einem anderen Polizeiwagen, und führte sie über einen Pfad auf eine der Dünen.

Krumme atmete tief ein, als er von oben das Meer erblickte. Das Panorama war ein Traum. Die blaugrauen Wellen der Nordsee liefen träge an den breiten Strand. Weiter draußen sah er die Schleswig-Holstein auf der ruhigen See, jetzt auf ihrem Weg nach Amrum, ihrer nächsten Station im nordfriesischen Wattenmeer. Am Horizont konnte er wieder Langeneß erkennen, dahinter, etwas versteckt, die Küstenlinie der Hallig Hooge.

»Da wären wir«, verkündete Boje feierlich. Er zeigte auf einen kleinen Bereich in einer Senke, der mit einem Plastikband abgesperrt war. Daneben hielt ein weiterer Polizist die Stellung. Er hatte sich seine Diensthose hochgekrempelt und saß mit nackten Füßen im Sand.

»Moin, Enno, das ist Kommissar Krumme aus Berlin. Und das ist seine Kollegin Pat ... » Er zögerte verlegen, ihr Nachname fiel ihm nicht mehr ein.

»Kriminalkommissarin Patrizia Reichel«, half Krumme.

Boje legte beide Hände an seinen Gürtel. »Genau. Ich wollte ihnen mal zeigen, wie hier die Lage ist.« 

Enno nickte nur und schaute ihn und Pat verwirrt an. Er schien noch jünger als Boje zu sein – und war wohl genau so helle. 

Krumme seufzte. Ob es auf Föhr auch richtige Polizisten gab? Er zeigte auf die Absperrung. »Sagen Sie bloß, das ist alles?«

Boje runzelte verständnislos die Stirn.

Krumme seufzte. »Also schön, fangen wir von vorne an. Was genau ist passiert?«

Boje überlegte, wie er beginnen sollte, räusperte sich. Aber Enno sprang auf und kam ihm zuvor: »Frau Hayen wurde gestern Abend erwürgt. Ihre Leiche wurde hier gefunden.« Er zeigte an die tiefste Stelle der Senke.

»Von wem?«

»Zuerst wohl von dieser jungen Frau vom Festland. Ihr Name ist Kim Lutter. Sie muss den Mörder bei der Tat ertappt haben und wurde dann von ihm niedergeschlagen.“ Er zeigte auf die entsprechende Stelle im Sand. »Offensichtlich mit einem Stein, der in unmittelbarer Nähe gefunden wurde.« Er holte tief Luft. »Jedenfalls verlor sie das Bewusstsein. Ein paar Jungs, die hier am Strand Fußball spielten, haben einen Schrei gehört und sind sofort hochlaufen. Aber der Täter war schon weg.«

»Und die Jungs haben niemanden gesehen?«, fragte Krumme.

»Nein. Aber Sie können gerne selbst mit ihnen sprechen. Sie wohnen im Zeltlager, hier um die Ecke. Wir haben ihre Personalien aufgenommen.«

»Wohin haben Sie die Tote gebracht?«, erkundigte sich Pat, die mit dem Handy Fotos vom Tatort machte.

»Nach Wyk, in die Inselklinik. Ein Gerichtsmediziner aus Flensburg untersucht sie gerade.«

»Und Frau Lutter?«

»Ist ebenfalls im Krankenhaus. Keine Ahnung, wie es ihr aktuell geht.«

Enno schwieg. Krumme musterte ihn zufrieden. Wer hätte das gedacht? Der Bursche war ja doch auf Zack. 

Boje hatte das Gespräch mit großen Augen verfolgt und wollte jetzt auch punkten. »Jedenfalls«, sagte er und breitete beide Arme aus, »haben wir das Gelände erst mal gesichert, bis wir Genaueres wissen.«

Krumme sah ihn vorwurfsvoll an. »Aber warum nur diese kleine Ecke?«

»Der Chef meint, das würde reichen. Wir können doch nicht den ganzen Strand absperren.«

»War die Spurensicherung schon da?«

Boje kratzte sich am Kopf. »Nein, noch nicht, aber ...«

»Dann muss das sofort nachgeholt werden«, unterbrach ihn Krumme. »Die ganze Düne, bis runter zum Strand. Der Weg auch. Zigarettenkippen, Fußspuren, alles. Holen Sie sich noch mehr Leute, wenn es nötig ist. Ich will, dass jeder Zentimeter nach Spuren untersucht wird. Hoffentlich ist es nicht schon zu spät.«

Boje schob die Unterlippe vor und schwieg. Krumme blickte zu Pat: »Und wir beide fahren zur Klinik und sehen uns das Opfer an.«