Leseprobe Eisiger Nebel: 


Als Castor aus dem warmen Haus hinaus in den Garten stürmte, hatte er das Gefühl, jemand würde ihm einen kalten Lappen ins Gesicht schlagen, so frostig war die Nacht hier draußen in der Marsch.
Egal, er spürte die Kälte gar nicht, so sehr pumpte das Adrenalin durch seinen Körper. Schwer atmend, die Pistole im Anschlag, schaute er sich um. Nichts, keine Seele zu sehen. Die vom Nordwind gebeugten Birken, die auf beiden Seiten der langen Auffahrt standen, hielten ihre von Eis und Schnee schweren Äste nach unten wie traurige Soldaten auf einer Parade. Er spürte den eisigen Dunst in seinen, tränenden Augen, blinzelte, um die Konturen der Scheune erkennen zu können.
Er lauschte mit den geübten Ohren eines Jägers in die Stille. Kein Laut war zu hören, die Winternacht drückte sich wie ein großes Kissen auf die Welt, unterdrückte jedes Anzeichen von Leben.
Er rieb sich das schmerzende Kinn. Der Angriff hatte ihn völlig überrascht. Ein Anfängerfehler, er hatte den Schlag nicht kommen sehen, obwohl er in der Situation auf alles gefasst hätte sein müssen. Er spürte die Wut in sich aufsteigen wie ein lebendiges, fauchendes Tier. Wie hatte ihm das nur passieren können? So dicht vor dem Ziel der langen Suche. Weshalb hatte Kohnen ihm diesen Auftrag gegeben? Weil er ihm vertraute. Weil er wusste, dass er nie versagte und ohne Gnade jedes Hindernis aus dem Weg räumte. Und er wusste genau, wie wichtig Kohnen diese Sache war. Hier ging es nicht darum, irgendeinen kleinen Gauner aus dem Weg zu räumen. Es ging auch nicht um Geld oder Geschäftliches. Das hier war etwas Persönliches. Niemals würde Kohnen ein Versagen akzeptieren. Deshalb hatte er ihn, seinen besten Mann und einzigen Vertrauten geschickt. Und was tat er? Ließ sich wie ein Tölpel überraschen und überwältigen.  
Er spürte das Handy in der Hosentasche. Sollte er den Chef anrufen? Ihm erzählen, was er bisher geschafft hatte? Dass er Verstärkung brauchte?
Nein, verdammt. Das hier würde er wohl noch alleine hinbekommen! Kohnen hatte ihn nicht hierher, an das Ende der Welt geschickt, damit er beim ersten Problem den Schwanz einzog und um Hilfe bettelte.
Er schaute sich um. Das alte Haus erhob sich hinter ihm wie ein gewaltiges Tier, die Fenster wie große Augen auf ihn, den Eindringling gerichtet. 
Er schüttelte den Kopf, drehte den Hals, um die Verspannung in seinem Nacken mit einem leisen Knacken zu lösen. Schluss mit der Grübelei, Zeit, aufs Ganze zu gehen. Wenn er Glück hatte, saß er morgen früh im Zug und konnte wieder nach Hause fahren. Weg aus dieser Einöde. Zurück in die Stadt, wo man nicht stundenlang suchen musste, um ein gutes Restaurant oder einen ordentlichen Cocktail zu finden.
Ein leises Knirschen holte ihn aus den Gedanken. Schritte auf dem gefrorenen Boden. Er drehte den Kopf und den Lauf seines Revolvers Richtung Scheune, sah durch das nur angelehnte Tor, wie sich ein Schatten hastig durch das Licht einer schwachen Lampe schob. Er lächelte. Na also, ihm entkam keiner. Schon bald würde er die Information erhalten, die er brauchte. Egal wie. Er wusste, dass er sehr überzeugend sein konnte, wenn es darauf ankam. Er vergewisserte sich, dass die Waffe entsichert war und schlich sich lautlos über den kleinen Hof und ging neben dem Tor in Stellung.
„He, ich will doch nur reden!“, rief er, immer mit der Pistole im Anschlag. „Kein Grund, nervös zu werden.“
Absolute Stille. Nur der Wind blies von der nahen Nordsee herüber. Ein kaltes Flüstern, mehr nicht.
„Sag mir, was ich wissen will, dann bin ich sofort weg. In Ordnung?“
Wieder keine Antwort. Aber dieses Mal konnte er ein leises Rascheln hören. Kein Zweifel, jemand war in der Scheune und bestimmt nicht nur eine Ratte. Er seufzte, langsam hatte er genug von dem Quatsch. Die Pistole lag eiskalt in seinen halberfrorenen Händen. Vielleicht half ja ein Schuss ins Knie, um ein bisschen Bewegung in die Angelegenheit zu bringen.
Er räusperte sich. „Na schön“, sagte er so freundlich, wie es ihm in der Kälte möglich war. „Ich komme jetzt rein, entspann dich, wir wollen doch beide keinen Ärger.“
Er kontrollierte, dass das Magazin seiner Waffe randvoll war, holte tief Luft, dann schob er sich mit Schwung durch das offene Tor in die Scheune hinein. Dort war alles dunkel. Nur hinten in der Ecke glimmte eine einsame Glühbirne an einem Deckenbalken. Mit vorgehaltener Pistole drehte er sich ruckartig nach rechts und links und suchte den Innenraum ab. Es roch nach Heu und Pferdemist, auch wenn er kein Pferd sehen konnte. Dafür einen großen Trecker, wie ein schlafender Dinosaurier stand er im schummrigen Licht der Scheune.
„So, da wären wir also. Komm einfach aus deinem Versteck. Ich tue dir nichts, versprochen.“ Ihm war klar, dass das nicht sehr glaubwürdig klingen musste, aber das war jetzt auch egal. Als Zeichen seines guten Willens hielt er die Pistole mit einer Hand nach oben in die Luft – behielt aber den Finger am Abzug. Sobald das Schwein sich zeigte, wollte er schießen. Er hatte schon viel zu viel Zeit verloren!
„Wie oft soll ich es noch sagen? Ich will...“
Ein Knarren, oben auf dem Heuboden, direkt über ihm. Er schaute nach oben, musste den Blick aber wieder abwenden, als Staub ihm in die Augen rieselte. Ein Schatten, nein zwei liefen oben über den Holzboden.
Er riss die Pistole hoch, schoß sofort. Ein Mal, zwei Mal. Er hörte Fluchen, einen Aufschrei. Hatte er getroffen? Nein, die Schatten rannten weiter, auf die andere Seite der Scheune, vorbei an einer dunklen Öffnung.
Schluss mit dem Spiel!
Er schoß weiter, immer wieder! Trotz Schalldämpfer dröhnten die Schüsse in der Stille wie Gewitterdonner. Holzsplitter spritzten durch die Luft. Balken ächzten, aber er hörte nicht auf zu schießen. Funken blitzten durch die Dunkelheit, irgendwo hatte er Metall getroffen, der Querschläger zischte durch die Luft.
Er hielt inne, blickte an der Waffe vorbei nach oben. Hörte ein zähes Knirschen, dann das Bersten eines Pfostens, Holz, das langsam nachgab. Und sah viel zu spät, wie aus dem Dunkel der Öffnung etwas Großes auftauchte. Für den Bruchteil einer Sekunde glänzte Metall im spärlichen Licht. Dann schwang ein großer Gegenstand wie ein Pendel herunter – und traf ihn mit ungeheurer Wucht mitten ins Gesicht. Das laute Knacken seines Schädels war das Letzte, was er in diesem Leben wahrnahm und ihn ein schwarzes Nichts schleuderte.