Leseprobe Dunkler Grund:


Broder hielt inne, um sich mit dem Handrücken den Schweiß aus dem Gesicht zu wischen. Dann lehnte er sich seufzend an den Mast seines Kutters. Drei Enten watschelten leise quakend über die Rasenfläche neben der langen Hafenmole herum, während einige Möwen ihre Kreise über seinem Kutter drehten, in der Hoffnung, dass hier im Hafen etwas für sie abfallen würde. Es roch nach Meer, frischem Gras – und nach Krabben. Was sich auch nicht ändern würde, egal wie lange er seinen Kutter schrubbte.

Für einen kurzen Augenblick genoss er die Ruhe, die auf Pellworm herrschte und die durch das gleichmäßige Rauschen der nahen Nordsee nur verstärkt wurde. Weiter vorne an der Hafenmole waren ein paar Urlauber unterwegs mit ihren Kindern, die vergnügt Steinchen ins Hafenbecken warfen oder Fangen vor dem „Hafen Pub“ spielten. Doch das alles war weit weg. Broders Kutter, die Nele lag am anderen Ende des Kais. Hierhin verirrte sich nur selten jemand. Und das war auch gut so.

Broder machte sich wieder an die Arbeit. Zog mit einem Eimer an einer Leine Wasser herauf, schüttete es auf die Holzplanken und schrubbte das Deck. Gleichmäßig, mit routinierten Bewegungen. Sein halbes Leben lang fuhr er mit seinem Krabbenkutter auf die Nordsee. Das Säubern, Abspülen und Schrubben des Bootes gehörte am Ende immer dazu.

Kurti, sein junger Fischereigehilfe war heute auf einer Geburtstagsfeier eingeladen. Kein Problem für Broder, der auf seinem Kutter am liebsten selbst Klarschiff machte.

Trotzdem schien Broder mit einer unsichtbaren Person zu reden. Sein Mund formte Worte, die nur er hören konnte. Er nickte immer wieder, schüttelte energisch den Kopf, verärgert über einen stummen Widerspruch. Lächelte dann gedankenverloren, schien sich mit leiser Wehmut in den müden Augen an vergangenes Glück zu erinnern. 

Schließlich verstaute er den Eimer und den Schrubber. Er streckte den Rücken und stemmte die Hände ächzend in die Hüfte. Zufrieden betrachtete er sein Werk. Die Stimme in seinem Kopf schien zu schweigen. Für einen Augenblick hatte er nur Augen für seine Nele.

Er atmete tief durch und wischte dann die verschwitzten Hände an seiner kurzen Hose ab. Broder trug immer kurze Hosen – im Sommer, Herbst und Winter, und jetzt im Frühling sowieso. Dazu einen blauen Pullover und meist schwere Arbeitsstiefel. Nur zum Schrubben hatte er sich Gummistiefel übergezogen, die gleichen wie seit fünfzehn Jahren.

„Moin, Broder“, meldete sich eine tiefe Stimme von der Kaimauer.

Broder drehte sich um. Dort stand ein bärtiger, kräftig gebauter Mann, die Hände tief in den Taschen seiner blauen Latzhose. Otto Klose. Genau wie Broder war er auf Pellworm aufgewachsen. Die beiden waren schon als kleine Buttjer über die Marschwiesen gelaufen und hatten die Schafe von Ottos Vater gejagt.

Heute ging alles etwas ruhiger zur Sache.

„Moin, Otto.“

„Wie war die Fahrt?“, fragte sein Freund.

„Geht so.“

„Nichts gefangen?“

„Nur ein bisschen.“ Broder klopfte mit seiner großen Hand gegen die Kajütentür. „Der Diesel macht Probleme. Mussten schon nach der Hälfte abbrechen. Hatten Glück, dass wir es überhaupt zurück in den Hafen geschafft haben.“

„So’n Schiet.“

„Kannste wohl sagen.“

Für einen Moment schwiegen die beiden und schauten versonnen zu der Gruppe Touristen. Ein kleines Mädchen weinte bitterlich, weil ihr das Eis beim Spielen auf den Boden gefallen war.

„Wollte nur fragen, wie’s mit dem Tor aussieht.“

Wie viele Insulaner hatte Broder mehrere Jobs, war nicht nur Kutterkapitän, sondern auch Maler und Schlosser. Und vor allem der einzige Tischler auf Pellworm.

„Alles fertig. Morgen baue ich dir das Ding wieder ein.“

Otto nickte zufrieden, verabschiedete sich, indem er kurz den Finger an die Stirn hielt und marschierte dann zurück Richtung Parkplatz. Broder wusste, dass dort eine kleine Kutsche stand, mit der Otto Urlauber über die Insel fuhr. Nötig hatte er es nicht, denn Ottos Familie besaß seit vielen Generationen einen der größten Höfe auf Pellworm.  

Broder schaute seinem Kumpel eine Weile hinterher und ging dann in die Kajüte, wo in der Ecke eine kleine schmutzige, aber funktionstüchtige Kaffeemaschine stand. Er nahm sich einen leeren Becher und wollte sich gerade etwas einschenken, als er eine andere Idee hatte. Er öffnete einen kleinen Schrank, holte eine Flasche Korn heraus und goss sich reichlich davon in ein kleines Wasserglas. Dann stellte er sich an die offene Tür, schaute hinaus Richtung Meer. In der Ferne näherte sich eine Fähre, dahinter, auf der anderen Seite des Heverstroms, war die dünne Küstenlinie der Halbinsel Eiderstedt zu erkennen.

Broders mächtiger Brustkorb hob sich, als er die frische Luft einsog. Dann nahm er einen Schluck Korn in den Mund, behielt ihn eine Weile wie einen guten Wein prüfend im Mund und ließ ihn schließlich mit geschlossenen Augen die Kehle hinunter rinnen.

Broder stöhnte zufrieden. Er betrachtete das Glas, in dem kaum noch etwas war. Er trank den Rest in einem Zug und griff erneut nach der Flasche und schenkte sich noch einmal großzügig ein.

Mit dem Glas in der linken Hand folgte sein Blick einem Entenpärchen, das in friedlicher Eintracht durch das Hafenbecken Richtung offene See schwamm.

Broder strich mit der freien Hand über den strubbeligen Vollbart. Sein Blick verlor sich in der Leere, mit den Gedanken war er bereits wieder woanders. Erneut bewegte sich sein Mund in einem stummen Zwiegespräch. Unvermittelt verfinsterte sich seine Miene. Im nächsten Moment schlug er mit der geballten Faust und einem leisen Schrei gegen die Kajütenwand, so heftig, dass am alten Holz die Farbe abblätterte.

Erschrocken von seinem Gewaltausbruch rieb er sich mit der jetzt blutigen Hand übers Gesicht. Er stöhnte gequält, versuchte ruhig ein und aus zu atmen. Nach einer Weile hatte er sich wieder beruhigt. Mit gesenktem Haupt ging er zurück in die Kajüte und stellte das Glas ab.

Er hob den Kopf und blickte zum Regal, das über der Kaffeemaschine hing und in dem sich allerlei Krimskrams befand – ein Becher mit Stiften, ein kleines Radio, eine rostige Schere, ein Taschenmesser und Angelköder. Dort lag auch ein zerknitterter Umschlag. Mit starrer Miene nahm Broder ihn die Hand und zog mehrere Fotos heraus. Auf allen war dieselbe Person zu sehen. Eine junge Frau mit halblangen, blonden Haaren. Auf sämtlichen Bildern lächelte sie ihn freundlich an oder schnitt freche Grimassen.

Ein verträumtes Lächeln trat auf Broders Gesicht. Er seufzte und griff nun nach einem gerahmten Foto, das mit der Vorderseite nach unten in dem Regal gelegen hatte. Den Holzrahmen hatte er selbst angefertigt, geschliffen und lackiert. Doch die Scheibe war zerbrochen. Die meisten Splitter lagen auf dem Regalbrett. Mit zusammengepressten Lippen betrachtete Broder das Foto. Es zeigte die blonde Frau zusammen mit ihm am Deich vor der stürmischen Brandung der Nordsee. Während er linkisch, aber glücklich in die Kamera grinste, wie immer mit seiner kurzen Hose, stand die Frau entspannt mit nackten Füßen im Gras, in einem leichten Sommerkleid, lächelnd, die Haare vom Wind verwirbelt.

Broder strich zärtlich mit dem Finger über das Foto.

Blut beschmierte das Bild.

Broder betrachtete verwundert seine kaputten Knöchel, beobachtete wie ein dicker roter Tropfen die Hand herunterlief. Er legte den Kopf schief, lächelte traurig, während in seinen Augenwinkeln eine Träne glänzte. Er strich mit dem Finger erneut über das Foto, hinterließ auf dem Papier einen weiteren blutigen Streifen, verschmierte ihn so, dass das Gesicht der jungen Frau nicht mehr zu sehen war. 

Einen Moment lang betrachtete Broder sein Kunstwerk. Dann legte er das Foto zu den anderen zurück ins Regal. Er nahm das Taschenmesser und steckte es in die Hosentasche. 

Als er die Kajüte verließ, empfing ihn das laute Kreischen der Möwen. Dieses Mal beachtete er sie nicht. Er schloss die Kajüte ab und verließ sein Schiff.