Leseprobe Dunkle Fluten

 

Sie saß allein am Fluss und blickte mit starrer Miene in das dunkle, träge dahinfließende Wasser. Das schlechte Wetter der letzten Tage hatte die Spree so aufgewühlt, dass sie den schlammigen Grund nicht erkennen konnte. Stattdessen spiegelte sich in der glatten Flussoberfläche ihr eigenes, trauriges Gesicht. Nachdenklich strich sie mit den Fingern über die kleinen Falten unter ihren Augen. Sie sah alt aus.

 Langsam setzte Regen ein, erste Tropfen fielen ins Wasser und verwandelten ihr Gesicht in eine verzerrte Fratze. Sie starrte unverwandt auf ihr Spiegelbild und seufzte. Das ewige Warten zerrte an ihren Nerven. Wieso hatte sie nicht mitkommen dürfen? Wieso hatte sie allein zurückbleiben müssen? In der kleinen Hütte, die mitten im Wald lag. Nahe dem Dorf, in dem sie kaum jemanden kannte und niemand sie kennen wollte.

Die sanfte Strömung nahm einen Schlammwirbel mit sich, so dass sie wieder den sandigen Grund sehen konnte. Die Blätter eines dunkelgrünen Farns bewegten sich im Wasser langsam hin und her. Ein kleiner Fisch tauchte hinter einem Stein auf und schwamm träge in die Mitte des Flusses, wo er sich scheinbar schwerelos der Strömung entgegenstemmte.

Gelangweilt nahm sie einen Kieselstein und warf ihn nach dem Fisch. Für einen kurzen Moment trübte sich das Wasser durch den aufgewühlten Sand, als es wieder aufklarte, war der Fisch verschwunden.

Ihr Blick fand den Stein auf dem Grund. Er lag so selbstverständlich da, als hätte er schon immer dort gelegen.

Sie dachte daran, dass der Stein jetzt wohl für immer am Flussgrund bleiben würde. Wie lange hatte er schon an der Uferböschung gelegen, zusammen mit Tausenden von anderen Steinen? Nur wegen ihr musste er nun viele, viele Jahre, Tausende, vielleicht sogar Millionen von Jahren auf dem dunklen Grund der Spree verharren, bis ihn ein noch unklares Schicksal wieder an Land spülen würde.

Sie fühlte sich dem Stein verbunden. Ging es ihr nicht genauso wie ihm? Ein geheimnisvolles Schicksal hatte auch sie vor zwei Jahren aus ihrer Heimat hierher getragen. Wie lange würde sie noch hierbleiben? Sie wusste es nicht.

Der Regen nahm an Heftigkeit zu. Noch immer blickte sie, einer Statue gleich, mit trägem Blick in den Fluss. Erst als sich das Regenwasser in den Ästen über ihr sammelte und ein dicker Tropfen sie auf der Stirn traf, erwachte sie kurz aus ihrer Starre und legte sich eine Decke um die Schulter, bevor sie sich wieder ihren Gedanken überließ.

Bin ich glücklich?, fragte sie sich. Sie dachte daran, wie sie heute im Dorf gewesen war, um in dem kleinen Laden etwas Garn und einige Gewürze zu kaufen. Sie hatte die Blicke der Leute deutlich gespürt, wie Nadelstiche auf ihrem Rücken. Ihr Deutsch war nicht gut genug, um in jeder Situation alles zu verstehen, doch als ausgerechnet der Bürgermeister über sie schimpfte, hatte sie jedes Wort verstanden. In seiner widerlichen braunen Uniform hatte er neben der Kasse gestanden, und als er über sie sprach, spritzte Spucke aus seinem Mund.

„Polackenhure“ - das Wort hatte sie hier schon oft gehört. Sie erinnerte sich an die spöttisch grinsenden Gesichter der anderen Ladenbesucher und warf verächtlich eine Handvoll Dreck und Blätter ins Wasser.

Wie sehr sie diese Menschen hasste! Was wussten sie schon vom richtigen Leben, sie, die ihr kleines Dorf am Ende der Welt noch nie verlassen hatten? Nichts wussten sie! Verrecken sollten sie, alle miteinander. Verbrennen in ihren steinernen Häusern. Oder, besser noch, ertrinken. Ersaufen in dem Fluss, an dem sie ihr ganzes jämmerliches Leben verbracht hatten.

Einen Moment lang gab sie sich ihrem Hass hin und beobachtete ein Blatt, das verloren auf dem dunklen Fluss dahinglitt, bis es hinter einem tief im Wasser hängenden Zweig verschwand.

Dieses Warten, dieses ewige Warten, das störte sie am meisten. Wie lange sollte das noch so weitergehen? Es war nicht gut, sich zu lange nur mit sich und seinen Gedanken zu beschäftigen. Nicht gut für sie selbst, aber auch nicht für die wenigen Menschen, mit denen sie in Berührung kam. Manchmal überkam sie selbst die Angst vor den Ideen, den Gedanken, die sich dann wie groteske Bilder in ihren Verstand drängten.

Der Regen wurde wieder schwächer. Licht spiegelte sich im Wasser, das nur noch vereinzelt von Tropfen erschüttert wurde. Ein Vogel schien mit zaghaftem Zwitschern zu fragen, ob er sein Nest wieder verlassen durfte. Als sie in den Himmel schaute, brach die Sonne durch das dunkle Grau.

Ein Zeichen. Sie lächelte, strich mit der flachen Hand durch das feuchte Gras und betrachtete ihre nassen Finger. Ja, es stimmte, nicht alles war schlecht. Auch im Schatten gab es Licht. Sie durfte nur nicht die Hoffnung verlieren. Aber wenn jemand auf dieser von Gewalt, Lügen und Niedertracht getriebenen Welt auf bessere Zeiten hoffen durfte, dann doch sie!

Bald würde alles anders werden. Bald würde sie nicht mehr allein sein, nie wieder. Dann würden Liebe und Zärtlichkeit ihre dunklen Gedanken vertreiben.

Leises Lachen drang an ihr Ohr. Kinderlachen, unbeschwert und rein und noch weit entfernt.

Oder war es nur eine Einbildung? So wie häufig? Manchmal wurden ihre Fantasien so real, so greifbar, so überwältigend, dass sie sie wie eine Woge umschlossen und mitrissen. Was real, was nur ein Traum war, das konnte sie dann selbst nicht mehr unterscheiden. Meist fühlte sie sich in ihren Fantasien so wohl wie in einem warmen Haus, aber manchmal drückten ihre Fantasien sie auch zu Boden, zogen sie hinunter in ein dunkles Loch.

Das Lachen war verstummt. Wahrscheinlich hatte sie es sich wirklich nur eingebildet. Aber für sie war es nur ein erneutes Zeichen, ein früher Gruß aus einer besseren Zukunft. Ja, alles würde sich zum Guten wenden. Sie war die Einzige, die bis jetzt davon wusste, ihm hatte sie noch nichts davon erzählt.

Mit einem glücklich verklärten Lächeln strich sie über ihren schlanken Körper. Auch wenn es noch recht früh war, konnte sie spüren, wie ihre bisherigen flachen Brüste in den letzten Tagen etwas größer und fester geworden waren. Und wenn sie ihre Hand auf ihren noch flachen Bauch legte, konnte sie den zarten Herzschlag durch ihr dünnes Leinenkleid fühlen. Und das, da war sie sich ganz sicher, war keine Einbildung.