LESEPROBE
Der Sturm donnerte mit düsterem Grollen über die Insel, fuhr laut durch das hohe Schilf, schüttelte die alten Birken und fegte die letzten Blätter von den Ästen.
Die junge Frau lief den endlosen Weg am aufgewühlten Meer entlang. Allein, schluchzend, das Gesicht von Schlägen gezeichnet, stolperte sie durch die Nacht. Sie achtete nicht auf die wenigen beleuchteten Fenster der Reetdachhäuser auf dem hohen Kliff, hob nicht den Kopf, um zu dem roten Blinken der riesigen Windräder auf dem fernen Festland zu schauen. Während über ihr die schwarzen Wolken dahinrasten, tobte in ihrem Kopf ein zweiter Sturm. Sie war wie gefangen in ihrem Kummer, ihrem Elend und ihrem grenzenlosen Schmerz.
Schließlich verließ sie den Weg am Meer, wandte sich landeinwärts, ging vorbei an Dünen und Bäumen, die wie dunkle Geister ihre nackten, im Wind schaukelnden Äste nach ihr streckten.
Ein Geräusch ließ sie innehalten. Ein Knirschen im Sand. Nervös schaute sie sich um, lauschte, atmete die eisige Luft ein, den Duft nach Kiefern und Meer.
Hatte sie sich getäuscht?
Oder war er ihr gefolgt?
Wollte er sie nicht loslassen? Wollte er verhindern, dass sie ihre Qualen endlich beendete?
Für einen Moment hielt sie den Atem an. Doch außer dem Brausen des Windes war nichts war zu hören, keine Schritte, kein Knistern von gefrorenem Dünengras unter schweren Stiefeln.
Also weiter. Wie im Rausch kämpfte sich die Frau durch die Nacht. Schon oft hatte sie diesen Weg genommen, hatte überlegt, doch im letzten Moment feige gezögert.
Aber nicht heute. Heute würde sie die Sache zu Ende bringen. Es gab keine Hoffnung mehr, dass er sich ändern würde, so sehr sie es sich all die Jahre gewünscht hatte. Ihre Mühen, ihre endlose Geduld waren umsonst gewesen.
Endlich, als der Mond eine Lücke in den Wolken fand, erreichte sie ihr Ziel: die Gleise, die von Sylt in einer schnurgeraden Linie über den schmalen Hindenburgdamm führten, jenen grünen Wall, gegen den jetzt auf beiden Seiten die tosenden Wellen der Nordsee krachten.
Sie schwankte benommen. Auf einmal erschien ihr alles wie ein Traum, wie eine erlösende Vision.
In der Ferne konnte sie bereits die Lichter des Zuges aus Niebüll erkennen, auf seinem Weg nach Westerland. Schnell kam er näher, in nur wenigen Augenblicken würde er hier sein.
Es war Zeit. Ein letztes kurzes Zögern. Dann der Entschluss. Die junge Frau holte tief Luft, schmeckte noch einmal das Salz des nahen Meeres. Der Wind zerrte an ihr, als wollte er sie zurückhalten.
Zu spät.
Sie machte einen Schritt, stellt sich breitbeinig auf die Gleise, blickte zu den Lichtern, die auf sie zurasten, immer schneller. Schon spürte sie das leise Beben der Bohlen unter ihren Füßen.
Auf einmal war alles still. Die Welt schien den Atem anzuhalten, die Möwen verharrten regungslos in der Luft, beobachteten von oben die Tragödie, die unter ihnen ihren Lauf nahm.
Sie streckte die Arme aus, schloss die Augen und wartete auf den Aufprall.
Das Ende.
Endlich.
Plötzlich wieder das Knirschen, ganz nah.
Der Geruch. Zu dem Salz des nahen Meeres nun auch Minze.
Ein Schatten löste sich aus der Dunkelheit. Und stieß sie in ein schwarzes Nichts.