Leseprobe Deichmörder:


Mit einem leisen Schrei schreckte er hoch. Wie in den Nächten zuvor brauchte er einen Moment, um zu verstehen, wo er gerade war: im Laderaum des geliehenen VW-Transporters. Benommen fasste er sich an den Kopf. Was für ein Alptraum! Lag es an der Luft? An diesem verdammten Salz, das er überall riechen und auf der Zunge schmecken konnte? Schon in den anderen Nächten hatte er kaum ein Auge zugekriegt, aber so schlimm wie in dieser Nacht war es noch nie gewesen.

In seinem Kopf wirbelten immer noch die Bilder der stürmischen Nordsee. Nackte Frauenkörper, und immer wieder ihr Körper und ihr lächelndes Gesicht. Er hatte schwarze Wolken gesehen, die in aberwitzigem Tempo über den Himmel gerast waren. Schilf, das sich im Sturm nach unten bog, Möwen, die zerschmettert auf dem Boden lagen. Häuser, die vor seinen Augen, wie Kaugummi zusammensackten und in der Erde verschwanden. Und dann das Wasser. Dieses schmutzige Wasser! Er hatte gespürt, wie es in seine Lungen geflossen war und ihm den Atem nahm.

Er stieß gegen die Schiebetür, stürzte hinaus und schnappte nach Luft. Nur ein Traum, sagte er sich, das war nur ein Traum. Es war schon heller Morgen, die Sonne versteckte sich noch hinter dem Morgendunst, aber es würde ein schöner Tag werden.

Darauf bedacht, so unsichtbar wie möglich zu bleiben, hatte er den Transporter auf dem verlassenen Parkplatz einer Vogelschutzstation abgestellt, die sich hinter dem Deich direkt neben dem großen See befand. Ein kleiner betonierter Weg führte am Deich entlang, aber man musste sich schon sehr strecken, um den hinter einem Baum und einem Gebüsch stehenden Wagen zu entdecken.

Stundenlang war er gestern im Nieselregen durch dieses elende Flachland gefahren. Mittlerweile musste er übel aufstoßen, wenn er nur einen Ortsnamen mit -büll am Ende las. All diese kleinen Käffer, die alle gleich aussahen. Die gleichen verklinkerten Häuser, die gleichen leeren Straßen, die gleichen langweiligen Leute. Überall die verdammten Schafe und die Windräder, die sich mit einer monotonen Gleichmäßigkeit bewegten, dass ihm nur vom Hingucken schlecht wurde.

Und nirgends eine Spur von ihr.

Am Ende seiner vergeblichen Suche hatte er sich diesen einsamen Parkplatz gesucht und ein bisschen Brot mit Käse runtergeschlungen, das er sich in einem Supermarkt gekauft hatte. Er hatte sich gefragt, ob er wieder zurückfahren sollte.

Aber jetzt war sie ihm wieder im Traum erschienen. Ein Zeichen und und er glaubte an Zeichen. Das Schicksal wollte ihn prüfen, ob er stark genug war, um weiter nach ihr zu suchen. Und ja, er war stark genug. Er würde nicht aufgeben, niemals.

Wie um seinen Entschluss zu bestätigen, brach die Sonne durch den Morgendunst und blendete ihn so, dass er die Augen zukneifen musste. Er blickte lächelnd zum Himmel.

Tatsächlich hatte er schon alle Orte mit -büll am Ende abgeklappert. Also alles noch mal von vorne? Noch mal die Runde? Ja, wenn es nicht anders ging, würde er bis zum jüngsten Gericht in Nordfriesland herumfahren .

Wieder fasste er sich an die Schläfen. . Diese dröhnenden Kopfschmerzen, woher kamen sie nur? Er hatte sich ein paar Aspirin organisiert, aber auch die konnten ihm nicht helfen. Stattdessen spürte er  wieder diese Energie, dunkle Energie, die sich in ihm aufstaute und um Erlösung bettelte. Nur der Gedanke an Eva konnte Licht in diese Schwärze bringen.

Auf einmal war da ein Geräusch, ein leises Tippeln, noch weit entfernt, aber klar und deutlich zu hören. Vorsichtig riskierte er einen Blick durch die Büsche.

Eine Joggerin. Sie war noch gut ein paar hundert Meter entfernt und kam langsam näher. Ihr schwarzer Zopf wippte hinter ihrem Kopf, und ihr kräftiger, aber nicht zu durchtrainierter Körper bewegte sich im Rhythmus ihrer Schritte.

Er schluckte. Schon einmal hatte er sich getäuscht. Aber auch wenn er ihr Gesicht nicht richtig erkennen konnte, dieses Mal war er sich ganz sicher - das war Eva!

Träumte er etwa immer noch? Das konnte doch nicht wahr sein! Eva! So lange hatte er sie gesucht und jetzt kam sie direkt in seine Arme gelaufen! Sie hörte Musik vom iPod, den sie sich an den Arm geschnallt hatte, und ahnte nicht, dass sie durch die dichte Hecke der Vogelstation beobachtet wurde.

Benommen hielt er sich am Transporter fest. Alles verschwamm vor seinen Augen. Bilder aus seinem Traum kehrten zurück. Fast hatte er das Gefühl, die Besinnung zu verlieren.

Was für ein Zufall!

Nein, kein Zufall! Er hatte sein Glück erzwungen, war extra den langen Weg aus Berlin hierhergekommen. All seine Mühen wurden jetzt belohnt. Er sah, wie sie sich entfernte. Der schmale Betonweg führte kilometerlang am Deich entlang. Sie würde noch ewig zu sehen sein.

Sein Atem ging schwerer in Erwartung dessen, was gleich passieren würde.

Er musste es tun. Jetzt.

Er drehte sich um, stieg in den Transporter. Seine Hand zitterte vor Erregung, als er den Schlüssel umdrehte und den Motor startete.